Pascal Hector[1]

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Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union

 

 

Überarbeitete Online-Fassung des Beitrags zum Kolloquium anlässlich des 65. Geburtstags von Prof. Dr. Dr. mult. Georg Ress, der demnächst im Nomos-Verlag erscheinen wird.

Ó Der Beitrag ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten.

 

 

Durch den Europäischen Rat von Nizza (7.-11.12.2000) wurde der Text[2] der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch den Rat, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission feierlich proklamiert. Ausgearbeitet hatte ihn – in weniger als einem Jahr - der Konvent[3], der am 17. Dezember 1999 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammengetreten war.

 

Im Folgenden sollen – in vier Fragenkomplexen - die Probleme analysiert werden, die der Konvent zu lösen hatte und ein Überblick über die Entwicklung der Debatte gegeben werden: Zunächst stellt sich die Frage nach Notwendigkeit und Sinn des Unterfangens, die von zahlreichen Stimmen in Zweifel gezogen worden waren, nicht zuletzt im Hinblick auf mögliche Überschneidungen mit anderen internationalen Instrumenten des Menschenrechtsschutzes, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention. Daraus folgt unmittelbar die Frage nach dem Verhältnis der Charta zur EMRK, der ich gerade im Hinblick auf den Anlass für diesen Vortrag besondere Aufmerksamkeit widmen möchte. Besondere Beachtung verdient drittens der organisatorische Rahmen des Konvents, da sich aus ihm interessante Rückschlüsse auf die relative Stellung der verschiedenen Teilnehmer herleiten lassen. Den vierten Teil bildet schließlich die Untersuchung des Inhalts der Charta.

 

 

1. Brauchen wir eine Grundrechtscharta für die Europäische Union?

 

Die Antwort scheint - streng juristisch gesehen - auf den ersten Blick zu lauten: nein!

 

In der Europäischen Union ist bereits heute, durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der Schutz der Grundrechte gewährleistet[4]: In ständiger Rechtsprechung seit den sechziger Jahren stützt sich der Europäische Gerichtshof hierbei auf die Europäische Menschenrechtskonvention und die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. Dies ist seit dem Inkrafttreten des Maastricht-Vertrags in Art. 6 Abs. 1 EUV auch vertragsrechtlich festgeschrieben.

 

In die gleiche Richtung weist der Auftrag des Europäischen Rates von Köln, wonach "die auf der Ebene der Union geltenden Grundrechte in einer Charta zusammengefasst und dadurch sichtbarer gemacht werden sollen"[5]. Es handelt sich zunächst also im Kern um eine Kodifikation geltender Grundrechtsgewährleistungen. Dabei geht der Konvent allerdings, wie später noch zu zeigen sein wird, nicht nur vom engen Kanon des Art. 6 Abs. 1 EUV aus, sondern zieht auch weitere Quellen wie die Europäische Sozialcharta heran.

 

Worin liegt dann der Mehrwert der Charta? Ein Hinweis auf die Überlegungen, die den Beschlüssen des ER Köln zugrunde liegen, finden sich in dessen Ziffer 44: Dort wird als Zweck der Charta angegeben, dass durch sie die auf der Ebene der Union geltenden Grundrechte "sichtbarer gemacht werden sollen". Das Ziel ist - zumindest in einem ersten Schritt - also größere Sichtbarkeit. Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin[6] hat diese Überlegungen in Zusammenhang mit der deutschen Erfahrung gesetzt, dass die einklagbaren Grundrechte des Grundgesetzes entscheidend zum Erfolg der Bundesrepublik bei ihren Bürgern beigetragen haben, indem sich „so etwas wie Verfassungspatriotismus“ entwickeln konnte. Sicherlich ist es derzeit noch zu früh, von einem Verfassungspatriotismus in der Europäischen Union zu sprechen. Die Überlegung, dass größere Sichtbarkeit der grundrechtlichen Gewährleistungen das Identifikationspotential für den Bürger erhöht, ist jedoch nicht von der Hand zu weisen und daraus könnte sich längerfristig ein solcher europäischer „Verfassungspatriotismus“ entwickeln[7]. Von daher ist die Grundrechtscharta zunächst ein integrationspolitisches Vorhaben mit dem Ziel, das Potential für die Identifikation des Unionsbürgers mit seiner Union zu steigern, indem sie sichtbar macht, dass diese Union seine Grundrechte achtet und schützt. Diese Funktion kann kein bestehendes internationales Instrument des Grundrechtsschutzes übernehmen.

 

Aus der Perspektive der deutschen Staatsrechtslehre ist das Projekt der Grundrechtscharta vor allem deshalb interessant, weil es zeigt, wie die europäische Praxis, ungeachtet der grundsätzlichen Bedenken hinsichtlich der „Verfassungsfähigkeit[8]“ der Union, Schritt um Schritt immer weitere Elemente einer Unionsverfassung entwickelt.

 

Nach diesen Bedenken, die ihren bekanntesten Ausdruck in der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[9] gefunden haben, aber deutlich älter sind[10], wird aus dem postulierten Nichtvorhandensein eines europäischen Staatsvolks nicht nur die fehlende Staatsqualität, sondern auch die Unmöglichkeit einer genuin demokratischen Verfasstheit der Union hergeleitet – unter anderem mit der Folge, dass das Bundesverfassungsgericht als das Gericht eines Mitgliedstaats der Union für sich die Kompetenz in Anspruch nimmt, Unionsrecht am Maßstab des deutschen Verfassungsrechts zu messen.

 

Abgesehen von der schwachen empirischen Grundlage auf der diese Deduktionen stehen, einer Grundlage die zudem im Zeitverlauf noch stark abbröckelt[11] spricht gegen sie vor allem die folgende Überlegung: Ihre Grundlage sind Begriffe des Staatsrechts – Staatsvolk, Staatsgebiet, Staatsgewalt - die ihre Wurzeln in der Zeit des vollsouveränen Nationalstaats haben und nach einer immer stärker im Vordringen befindlichen Meinung[12] die Wirklichkeit der weit fortgeschrittenen supranationalen Integrationsgemeinschaft Europäische Union nicht mehr sachgerecht erfassen können. Wenn aber die Begrifflichkeit, von der die Überlegung ihren Ausgang nimmt, nicht mehr adäquat ist, besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass auch ihre Ergebnisse nicht die notwendigen Antworten auf die Fragen der heutigen europäischen Wirklichkeit liefern können.

 

Wenn man diese Überlegungen sozusagen vom Kopf auf die Füße stellt, muss die Aufgabe vor der die europäische Rechtsetzungspraxis und die Rechtslehre stehen lauten: Welche Rechtsinstrumente müssen entwickelt werden, um die Vielvölkerdemokratie Europäische Union funktionsfähig zu gestalten. Hierzu kann die Grundrechtscharta einen wichtigen Beitrag leisten: Der Unionsbürger soll die Union als öffentliche Gewalt erleben, die seine Rechte nicht beeinträchtigt sondern schützt und seine Freiräume erweitert.

 

Damit kein Missverständnis entsteht: Die Grundrechtscharta ist zwar ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer „Verfasstheit“ der Union, aber nicht notwendigerweise einer auf dem Weg zu ihrer Staatlichkeit. Wenn man der hier vertretenen Auffassung folgt, dass auch eine auf Dauer angelegte supranationale Integrationsgemeinschaft verfassungsfähig und verfassungsbedürftig[13] ist, so folgt damit – entgegen der älteren Lehre[14] - eine Trennung[15] von Verfasstheit und Staatlichkeit. Mit anderen Worten: Die Europäische Union kann eine Verfassung mit allen dazugehörigen Elementen erhalten, ohne dadurch ihren Charakter als Integrationsgemeinschaft sui generis zu verlieren.

 

Ein letztes Argument spricht für eine eigene Grundrechtscharta der Union: Die prägende Kraft, die sie für die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entfalten wird, wenn sie erst einmal in der Praxis angewandt werden wird – entweder weil sie rechtlich verbindlich gemacht worden ist oder weil der EuGH sie auch ohne rechtliche Verbindlichkeit als Erkenntnisquelle heranziehen wird. Dies könnte durchaus zu einem Perspektivwechsel in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs führen, und damit auch in der Rechtsanwendung der anderen Gemeinschaftsorgane sowie der Mitgliedstaaten. Wie Wolf[16] gezeigt hat, lässt sich aus der bisherigen EuGH-Rechtsprechung eine oft eher funktionale Sicht des Unionsbürgers als Marktbürger herleiten. Angesichts der schrittweisen Herausbildung den Europäischen Union in einem Prozess sui generis ist es verständlich, dass sich der Europäischen Gerichtshof - aus seinem Selbstverständnis als Motor der europäischen Integration heraus - zunächst auf die Vertiefung der Integration durch Ausdehnung der Kompetenzen der Gemeinschaft bzw. die Union konzentriert hat. Dies führte zur starken Betonung des Integrationsziels als quasi allgemeiner Schranke für den Grundrechtsschutz im Rahmen der Union. Angesichts des erreichten Integrationsstands ist jedoch ein Perspektiv­wechsel angesagt: weg von der alleinigen Ausrichtung auf den Binnenmarkt, hin zu einer umfassenden Würdigung des Unionsbürgers als grundrechtsgeschützter Persönlichkeit. Dies könnte im übrigen durchaus dazu führen, dass Rechtsakte der Gemeinschaft häufiger als bisher wegen Grundrechtsverstoßes annulliert werden. Zu diesem Perspektivwechsel kann und wird die Grundrechtscharta einen wesentlichen Beitrag leisten, denn durch die Kodifikation rücken die Grundrechte stärker als bisher in den Blick des Rechtsanwenders.

 

 

2. Das Verhältnis zur Europäischen Menschenrechtskonvention

 

Die Kritiker des Projekts weisen auf die Gefahr der Herausbildung unterschiedlicher Grundrechtsstandards durch möglicherweise divergierende Rechtsprechungen des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg hin. Sie befürchten den Verlust des europaweit - im Sinne des größeren Europa des Europarats - einheitlichen Menschenrechtsschutz-Standards[17].

 

Diese Befürchtungen sind naheliegend. Sie lassen sich jedoch durch eine nähere Betrachtung der Natur der Grundrechtscharta als Kodifikation und ihres Verhältnisses zur EMRK entkräften.

 

Zunächst besteht diese Gefahr unterschiedlicher Standards schon heute und wird durch die Grundrechtscharta nicht wesentlich erhöht:

 

Die Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention gehören bereits (über Art. 6 Abs. 2 EUV) zu den Garantien des Unionsrechts, die der EuGH bei der Grundrechtsprüfung heranzuziehen hat. Hierfür entwickelt der EuGH durchaus bereits heute seine eigene Rechtsprechung zu den Grundrechten, die auch in der EMRK garantiert sind.

 

Auf der anderen Seite unterliegen die Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft auch ohne förmlichen Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention[18] der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EuGH-MR), wie Bröhmer[19] dargelegt hat. Dies folgt schon aus der Überlegung, dass die EU-Mitgliedsstaaten, die der Jurisdiktion des EuGH-MR unterliegen, sich den für sie geltenden völkerrechtlichen Verpflichtungen der Menschenrechtskonvention nicht dadurch entziehen[20] können, daß sie ihre Kompetenzen zusammenlegen und auf ein neues internationales Handlungssubjekt[21], die Europäische Union, übertragen.

 

Die wichtigste Überlegung, die schließlich für einen eigenen EU-Grundrechtskatalog spricht, ist folgende: Ein potentieller Jurisdiktionskonflikt negiert nicht die Sinnhaftigkeit eines eigenen Grundrechtskatalogs. Auch die einzelnen Mitgliedstaaten, die unzweifelhaft der Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterliegen, haben ihre eigenen Grundrechtskataloge und ihre eigene Verfassungsgerichtsbarkeit. Entscheidend ist, daß eine Instanz, die öffentliche Gewalt gegenüber dem Bürger ausübt, über einen spezifisch auf sie zugeschnittenen Grundrechtskatalog und eine entsprechende Gerichtsbarkeit kontrolliert wird, die sicherstellt, daß die den Bürger belastenden Akte dieser öffentlichen Gewalt wirksam an einem grundrechtlichen Maßstab überprüft werden können.

 

Daher haben die deutschen Länder in ihren Landesverfassungen zu recht einen Grundrechtskatalog und eine Verfassungsgerichtsbarkeit für Akte der Landesgewalt. Ebenso haben die Nationalstaaten, etwa die Bundesrepublik Deutschland im Grundgesetz, einen Grundrechtskatalog und eine Verfassungsgerichtsbarkeit für die nationale Staatsgewalt. Von daher erscheint es nur natürlich, daß die Europäische Union als weitere Ebene öffentlicher Gewalt in Europa ebenfalls einen Grundrechtskatalog[22] erhält, der den Grundrechtsschutz durch die Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs weiter stärkt.

 

Hier sollte man kein falsches Konkurrenzverhältnis herbeireden: Jede dieser Jurisdiktionen - auf der Ebene der Länder, der Mitgliedstaaten und der Union - hat ihre spezifische Aufgabe, jede bietet den für die jeweilige Ebene öffentlicher Gewalt optimierten Prüfungsmaßstab. Das führt im übrigen nicht zu einem „Übereinanderstapeln“ immer weiterer Ebenen verfassungsrechtlicher Zuständigkeiten, da diese 3 Ebenen für ihren Anwendungsbereich jeweils exklusiv sind: So werden Akte der Unionsgewalt – gleich ob durch Unionsorgane oder durch die Mitgliedstaaten in der Durchführung von Unionsrecht gesetzt – vom Europäischen Gerichtshof grundrechtlich überprüft und zwar grundsätzlich ausschließlich[23], so dass jedes nationale Gericht – zumindest jedes konkret letztinstanzliche[24] - bei Zweifeln an der Vereinbarkeit eines Unionsrechtsakts mit den Grundrechten, diese Frage dem EuGH zur Entscheidung vorlegen muss.

 

An diese Grundrechtsprüfung anhand des spezifischen Maßstabs entweder durch den EuGH oder das nationale Verfassungsgericht schließt sich in jedem Fall die Möglichkeit zur Anrufung des EuGH-MR an – und zwar, wie gezeigt, auch ohne förmlichen Beitritt der Union zur EMRK.

 

Im übrigen wird ein solcher förmlicher Beitritt der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention - nach den notwendigen Vertragsänderungen - durch die Grundrechtscharta nicht überflüssig. Im Gegenteil ist er, im Interesse der Rechtsklarheit, nach der Verabschiedung der Grundrechtscharta sogar wünschenswerter denn je, um deklaratorisch festzustellen, dass dem Unionsbürger nach der Erschöpfung des Rechtswegs, auch wenn dieser bereits eine abweisende Vorabentscheidung des EuGH enthalten sollte, wegen der Behauptung einer Grundrechtsverletzung durch einen Akt der Unionsgewalt der Weg zum EuGH-MR offensteht, der diesen Akt dann anhand des Maßstabs der EMRK und seiner eigenen Rechtsprechung überprüft.

 

In der Praxis sollte diese zusätzliche Überprüfung allerdings nur in extremen Ausnahmefällen zu einem anderen Ergebnis in der Sache führen, denn es besteht Einigkeit, daß die EMRK den Mindeststandard darstellt, der auf jeden Fall einzuhalten ist, genauso übrigens wie die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten so wie sie durch den EuGH bisher herausgearbeitet worden sind. Allerdings kann sie auch nur einen Mindeststandard darstellen, denn das Unionsrecht kennt darüber hinaus weitere grundrechtliche Gewährleistungen, die teilweise sogar nur den Unionsbürgern zustehen, wie etwa die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Kapitalverkehrsfreiheit, die Niederlassungsfreiheit oder das Recht auf freien Warenverkehr. Schon von daher würde ein Beitritt zur EMRK alleine nicht ausreichen können.

 

 

3. Organisatorischer Rahmen

 

a) Der Auftrag des Konvents

 

Der Auftrag des Konvents – hinsichtlich dessen in der öffentlichen Darstellung häufig Missverständnisse festzustellen sind – folgt aus den Schlußfolgerungen des Europäischen Rats von Köln[25]. Dort heißt es, das Gremium solle "rechtzeitig vor dem Europäischen Rat im Dezember 2000 einen Entwurf vorlegen". Das heißt: der Konvents beschließt nicht etwa abschließend über die Grundrechtscharta, sondern er arbeitet lediglich einen Entwurf aus, der anschließend in einem zweistufigen Verfahren durch die Institutionen der Europäischen Union abgesegnet wird: durch Billigung seitens des Europäischen Rats und durch anschließende feierliche Proklamation durch Rat, Europäische Kommission und Europäisches Parlament.

 

Gleichzeitig enthält dieser Auftrag auch eine klare zeitliche Vorgabe: „rechtzeitig vor dem Europäischen Rat im Dezember 2000“ (7.-11. Dezember in Nizza). Dieser Termin wurde durch den ER Feira[26] vorverlegt auf den ER Biarritz (13./14. Oktober 2000), ursprünglich mit dem Ziel, dort eine erste Diskussion im Kreis der Mitglieder des Europäischen Rates zu ermöglichen. Tatsächlich waren aber die Arbeiten des Konvents schon Anfang Oktober 2000 abgeschlossen. Sein Vorsitzender, Roman Herzog, hat in der abschließenden Sitzung des Konvents am 2. Oktober 2000 festgestellt, dass der Entwurf der Charta von allen Parteien angenommen werden kann und ihn dem Vorsitzenden des Europäischen Rats rechtzeitig vor der Tagung von Biarritz (13./14. Oktober 2000) übermittelt. Der ER Biarritz hat den Text der Grundrechtscharta festgestellt und damit die feierliche Proklamation durch den Rat, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament durch den ER Nizza ermöglicht.

 

 

b) Die Zusammensetzung des Konvents

 

Die Zusammensetzung des Konvents ist in den Schlußfolgerungen des Europäischen Rats von Tampere festgelegt[27]. Danach besteht der Konvent aus insgesamt 62 Mitgliedern:15 Beauftragten der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, einem Beauftragten des Präsidenten der Europäischen Kommission, 16 Mitgliedern des Europäischen Parlaments sowie 30 Mitgliedern der nationalen Parlamente, zwei aus jedem Mitgliedstaat, die von den nationalen Parlamenten benannt werden. Darüber hinaus hat jedes Mitglied des Gremiums einen Stellvertreter, der nach dem Text des Europäischen Rats von Tampere an sich nur ein Abwesenheitsvertreter sein sollte, in der Praxis jedoch ständig zu den Tagungen des Konvents zugelassen ist. Als Beobachter nehmen teil: zwei Vertreter des Europäischen Gerichtshofs, ein Vertreter des Europarats und einer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

 

Bemerkenswert ist, daß diese Zusammensetzung institutionell ein völliges Novum darstellt: ein - zumindest auf den ersten Blick - gleichberechtigtes Zusammenwirken von Rat/Mitgliedstaaten, Kommission, Europäischem Parlament und Vertretern der nationalen Parlamente. Der Konvent unterscheidet sich damit grundlegend von einer Regierungskonferenz, dem bisher stets verwendeten Instrument zur Weiterentwicklung des primären Gemeinschaftsrechts[28]. Bei einer Regierungskonferenz sind ausschließlich die Mitgliedstaaten vollberechtigte Verhandlungspartner, die Kommission wird an den Arbeiten beteiligt und mit dem Europäischen Parlament wird lediglich ein Meinungsaustausch geführt, auf der Ministerebene in der Regel sogar außerhalb der Verhandlungskonferenz.

 

Die Arbeit eines solchen, völlig neuartigen Gremiums, erforderte selbstverständlich die Klärung zahlreicher verfahrensmäßiger Einzelfragen. Diese konnten in den ersten Monaten der Arbeit des Konvents jedoch ohne größere Schwierigkeiten gelöst werden, was auch zu erwarten gewesen war, denn alle Beteiligten, insbesondere auch das Europäische Parlament, haben ein Interesse am reibungslosen Funktionieren dieser neuen Organisationsform.

 

Dies vor allem aus zwei Gründen: Eine Charta der europäischen Grundrechte ist und war immer auch ein Projekt des Europäischen Parlaments[29], seit dessen erster Direktwahl: Das EP hat im Grundrechtsbereich beachtliche Vorarbeiten geleistet, z.B. die Erklärung der Grundrechte und Freiheiten vom 12.4.1989[30] und den Grundrechtsteil des EP-Entwurfs für eine Verfassung der EU vom 10.2.1994[31]. Das Europäische Parlament hat somit von der Sache her ein Interesse am Erfolg des Charta-Projekts.

 

Darüber hinaus hat das Europäische Parlament aber auch ein Interesse am Erfolg dieses Verhandlungsmodells, das ihm eine vergleichsweise sehr günstige Position einräumt: volle Beteiligung mit 16 Mitgliedern im Gegensatz zu nur zwei Beobachtern in der Vorbereitungsgruppe für die Regierungskonferenz. Daher ist es naheliegend, dass einige zumindest insgeheim die Vorstellung hegen, eine Versammlung nach dem Vorbild des Konvents könne später einmal – zum Beispiel im jetzt beginnenden Post-Nizza-Prozess - weitere Aufgaben bei der Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts übernehmen.

 

 

c) Die interne Organisation des Konvents

 

Die Schlußfolgerungen des Europäischen Rats von Tampere sind hinsichtlich der inneren Organisation des Konvents relativ allgemein gehalten. Auffallend ist lediglich die zentrale Rolle, die der Europäische Rat[32] dem Präsidium[33] – und damit letztlich auch dem Vorsitzenden des Konvents - zugewiesen hat.

 

Dieses Präsidium besteht aus dem Vorsitzenden, den drei stellvertretenden Vorsitzenden – dem Beauftragten des Präsidenten des Europäischen Rates[34] und jeweils einem Vertreter des Europäischen Parlaments[35] und der nationalen Parlamente[36] - sowie dem Vertreter der Kommission[37]. Seine außergewöhnlich starke Stellung - es schlägt den Arbeitsplan vor und arbeitet den ersten Charta-Entwurf aus – erklärt sich auch aus dem großen Zeitdruck: Der Konvent musste seine komplexe Aufgabe in weniger als einem Jahr erledigen. Daraus resultiert das Erfordernis einer effizienten internen Organisation der Arbeiten, die unnötige Bürokratie so weit wie möglich vermeidet. Dies gilt um so mehr, als der Konvent 15 verschiedene nationale Verfassungstraditionen zur gemeinsamen Formulierung eines Grundrechtskatalogs zusammenführen musste.

 

Das Plenum - der Konvent – sollte ursprünglich etwa alle zwei Monate tagen; wegen der Arbeitslast mussten jedoch, vor allem in den letzten Monaten, mehrere zusätzliche Termine[38] eingeschoben werden. Die Frage, ob neben dem Plenum auch spezialisierte ständige Arbeitsgruppen eingerichtet werden sollten, ist im Interesse einer leichten und effizienten Arbeitsstruktur negativ entschieden worden: Statt dessen tagte der Konvent zwischen den regulären Plenarterminen quasi als open-ended ad hoc Arbeitsgruppe, bei der die Teilnahme allen Mitgliedern offen stand.

 

 

d) Das Beschlussfassungsverfahren

 

Besonders aufschlussreich für das relative Gewicht der verschiedenen Mitglieder im Konvent ist das Beschlussfassungsverfahren. Hierzu heißt es in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von Tampere[39]: "gelangt der Vorsitzende in engem Benehmen mit den stellvertretenden Vorsitzenden zu der Auffassung, dass der von dem Gremium ausgearbeitete Charta-Entwurf für alle Seiten zustimmungsfähig ist, wird der Entwurf dem Europäischen Rat im Wege des üblichen Vorbereitungsverfahrens zugeleitet".

 

Das heißt: auch dieses Verfahren betont die überragende Stellung des Vorsitzenden und seiner drei Stellvertreter: Letztlich kommt es auf deren Überzeugung an, ob der ausgearbeitete Entwurf für alle Seiten zustimmungsfähig ist. Dabei ist der Vorsitzende nochmals besonders hervorgehoben: Er bildet seine Überzeugung „im Benehmen“ und nicht im Einvernehmen mit seinen Stellvertretern.

 

Für alle Seiten zustimmungsfähig heißt: zunächst für den Europäischen Rat, der den Entwurf in einem ersten Schritt billigen muss, sodann für Rat, Europäische Kommission und Europäisches Parlament, die ihn anschließend feierlich proklamieren. Mit anderen Worten: Der Entwurf muss für die Regierung eines jeden einzelnen Mitgliedstaats akzeptabel sein, da die Entscheidungen im Europäischen Rat nur im Konsens getroffen werden. Der anschließenden Entscheidung des Rates über die Proklamation dürfte – nach der Billigung des Entwurfs durch der Europäischen Rat - kaum eine eigenständige Bedeutung mehr zukommen. Die Europäische Kommission, muss zumindest der Proklamation zustimmen, das heißt: der Entwurf muss, da die Kommission grundsätzlich mit der (einfachen) Mehrheit ihrer Mitglieder entscheidet, für eine Mehrheit der Kommissare annehmbar sein. Schließlich folgt aus der Mit-Proklamation durch das Europäische Parlament, dass der Entwurf auch für eine Mehrheit im Europäischen Parlament akzeptabel sein muss. Keine formelle Zustimmung ist dagegen seitens der nationalen Parlamentarier erforderlich. Diese wirken am abschließenden Entscheidungsprozess nur indirekt - über ihren Einfluss auf die nationalen Regierungen - mit.

 

Konkret heißt das für den Entscheidungsprozess im Konvent: Wenn es hart auf hart kommt, müssen alle Regierungsvertreter sowie der Vertreter der Kommission zustimmen – zumindest soweit man davon ausgehen muss, dass die Nichtzustimmung eines dieser Beauftragten auch zur Ablehnung durch die von ihm vertretene Seite im Proklamationsverfahren führt. Außerdem muss der Vorsitzende im Benehmen mit seinen drei Stellvertretern zu der Überzeugung gelangen, dass der Entwurf im Europäischen Parlament mehrheitsfähig ist, ohne daß jedoch notwendigerweise die Mehrheit der Vertreter des Europäischen Parlaments im Konvent zugestimmt haben muss. Für die Praxis ist allerdings davon auszugehen, daß sich das Europäische Parlament in seiner Willensbildung sehr stark an der Stellungnahme seiner Vertreter im Konvents ausrichten wird, so daß jedenfalls in der Praxis ein Resultat, das nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments im Konvent erhält, keine Aussicht auf Proklamation durch das EP hätte.

 

 

4. Inhaltliche Aspekte

 

Die folgende inhaltliche Analyse der Charta konzentriert sich auf folgende fünf Aspekte: die Normtauglichkeit der Formulierungen, die Schutzrichtung und das Verhältnis zum nationalen Grundrechtsschutz, einen ersten Überblick über Struktur und Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistungen, die Schrankenregelung sowie die Verfahren zur gerichtlichen Durchsetzung des Grundrechtsschutzes.

 

 

a) Rechtstext oder "Verfassungslyrik"[40]

 

Da – zumindest in einem ersten Schritt - nur eine feierliche Proklamation der Charta vorgesehen ist, wäre eine Formulierung als rein politischer Text denkbar gewesen. Diese Lösung hatte in der politischen Debatte durchaus ihre Befürworter, aus zwei im übrigen ganz unterschiedlichen Motivationen heraus: Zum einen von der Seite derjenigen, die das Projekt insgesamt ablehnen und es daher, da es nun einmal unvermeidbar geworden war, gerne soweit wie möglich verwässern wollten; zum anderen von den Befürwortern möglichst umfassender sozialer Rechte, da ein rein politischer Text in deutlich stärkerem Maße als ein „harter Rechtstext“ die Möglichkeit eröffnet hätte, auch allgemeinere politische Zielbestimmungen aufzunehmen, in der trügerischen Hoffnung, die oft weitreichenden rechtlichen und wirtschaftlichen Folgen sozialer Grundrechtsgewährleistungen in der Rechtspraxis unter Hinweis auf den rein politischen Charakter des Dokuments ausblenden zu können.

 

Dieser Ansatz verkennt allerdings, dass in den Schlußfolgerungen der Europäischen Räte von Köln und Tampere bereits als zweiter Schritt die Prüfung vorgesehen ist, inwieweit die Grundrechtscharta anschließend in die Verträge eingefügt werden kann. Bei einem lediglich politischen Text wären dann weitere schwierige Textarbeiten erforderlich gewesen.

 

Der Konvent hat sich daher für einen "harten Grundrechtstext" entschieden, der später – falls solches entschieden werden sollte - unverändert in den Vertrag eingefügt werden könnte. Dies entspricht im übrigen auch der Auffassung der Bundesregierung, nach der die Grundrechte so formuliert werden müssen, "daß Sie nach der Proklamation ohne weitere Änderung den Europäischen Verträgen hinzugefügt werden können"[41].

 

Zwischenzeitlich angestellte Überlegungen, zwei Texte zu formulieren: einen harten Rechtstext, der später als solcher in die Verträge eingefügt werden könnte und eine politische Erklärung mit der die politischen Anliegen des Projekts besser erläutert werden könnten, sind damit überholt. Bei einem solchen Vorgehen hätten sich im übrigen auch schwierige Fragen nach dem Verhältnis der beiden Texte zueinander gestellt, insbesondere hinsichtlich der rechtlichen Tragweite des politischen Textes. Die Charta enthält allerdings eine kurze Präambel, in der die sie tragenden politischen Grundgedanken zusammengefasst worden sind. Dieser Text ist dabei so knapp gehalten, dass er bei einer allfälligen Einfügung der Charta in die Verträge Eingang in deren Präambel finden könnte.

 

 

b)         Sachlicher Anwendungsbereich, Schutzrichtung und Verhältnis zum nationalen Grundrechtsschutz

 

Hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereichs folgt aus der Logik des Projekts - das Grundrechtsschutz gegen Akte öffentlicher Gewalt seitens der Union gewähren will -, dass nur solche Akte erfasst werden, die der Union zurechenbar sind. Dies können Akte sein, die die Union selber - durch ihre Organe - setzt oder Akte, die der Union deshalb zurechenbar sind, weil sie in Ausführung des Unionsrechts[42] durch die Mitgliedstaaten - und zwar in ihrer Gesamtheit, das heißt einschließlich der Regionen (zum Beispiel die deutschen Länder) und Gemeinden - gesetzt worden sind. Mit anderen Worten: Es muss der Union direkt oder mittelbar zuzurechnendes Verhalten vorliegen.

 

Die Einbeziehung des Handelns der Mitgliedstaaten, soweit sie Unionsrecht ausführen, in den Schutzbereich der Unionsgrundrechte, wie sie vom Europäischen Gerichtshof entwickelt wurden, ist im übrigen nichts Neues: So hat der EuGH wiederholt entschieden[43], dass die Mitgliedstaaten die Grundrechte achten müssen, soweit im Rahmen des Anwendungsbereichs der Verträge tätig werden, sei es um das Gemeinschaftsrecht umzusetzen, sei es um von ihm abzuweichen.

 

Das Postulat eines umfassenden Grundrechtsschutzes - das aus dem auch für die Union geltenden Rechtstaatsprinzip (Art. 6 Abs. 1 EUV) folgt - erfordert die Einbeziehung aller Hoheitsakte der Unionsgewalt in den Anwendungsbereich der Grundrechtscharta, also auch derjenigen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, einschließlich der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (sog. 2. Säule – Titel V EUV) und des intergouvernementalen Bereichs der Justiz- und Innen-Zusammenarbeit (sog. 3. Säule – Titel VI EUV). Gerade dieser letztgenannte Bereich ist wegen der Möglichkeit zur Hoheitsausübung gegenüber dem Einzelnen besonders sensibel, so dass er einer verstärkten grundrechtlichen Absicherung bedarf[44]. Das heißt: Alle Hoheitsträger, die Unionsgewalt ausüben, haben auch in diesen Bereichen die Grundrechte zu achten. Die Justiziabilität – zumindest[45] seitens des EuGH - dürfte allerdings im Normalfall durch Art. 46 EUV ausgeschlossen sein.

 

Keine Geltung kann die Grundrechtscharta dagegen für das Handeln der Mitgliedstaaten in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich beanspruchen, da ihre Anwendbarkeit durch das Bestehen einer Kompetenz der Union bedingt und ihr Geltungsbereich damit zugleich auch begrenzt ist. Die Grundrechtsgewährleistungen der Charta führen im übrigen auch nicht zu einer Ausdehnung der Unionskompetenzen: Wegen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung, das durch die Charta nicht berührt wird, ist die Union nur für die ihr von den Mitgliedstaaten übertragenen Bereiche zuständig. Die Grundrechtscharta (Art. 51 Abs. 2) schließt jedoch die Begründung neuer Zuständigkeiten oder die Änderung der in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben durch sich ausdrücklich aus.

 

Angesichts dieses engen Anwendungsbereichs stellt sich die Frage nach der Berechtigung einzelner Bestimmungen: zum Beispiel der Religionsfreiheit oder des Verbots der Todesstrafe. Zwar hat die Europäische Union keine Zuständigkeit für die direkte Regelung religiöser Angelegenheiten, sie ist aber verpflichtet, bei der Regelung von Sachverhalten für die sie zuständig ist, die Inzident-Wirkungen der Grundrechte zu berücksichtigen. Ein Beispiel: Bei der Regelung der Schlachtung von Tieren, für die sie kraft ihrer Landwirtschafts-Kompetenz zuständig ist, ist die Gemeinschaft auf Grund der Religionsfreiheit (Art. 10 der Charta) verpflichtet, auch religiöse Aspekte mit zu berücksichtigen.

 

Darüber hinaus kodifiziert die Charta auch die Wertordnung der Union insgesamt, vor allem auch in ihren Außenbeziehungen. Dies ist zum Beispiel eine der Rechtfertigungen für die Aufnahme des Verbots der Todesstrafe in die Charta: selbstverständlich hat die Union keine Kompetenz zur Verhängung der Todesstrafe und wird diese auch nie erhalten. Jedoch gehört das Verbot der Todesstrafe zur Wertordnung der Union, was unter anderem in der konsequenten Bekämpfung der Todesstrafe im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zum Ausdruck kommt.

 

Fallengelassen wurde der zeitweise im Konvent erörterte Gedanke[46], für die sozialen Grundrechte, die in starkem Maße das Verhältnis der Arbeitsvertragsparteien zueinander betreffen, eine Drittwirkung gegenüber den Sozialpartnern ausdrücklich festzuschreiben.

 

Zusammenfassend sei gesagt: Die Grundrechtscharta ist kein "Super-Grundrechtskatalog" für jedes öffentliche Handeln auf dem Unionsgebiet[47]. Vielmehr ist im Rahmen der Rechtsanwendung zu unterscheiden, ob ein Rechtsakt im konkreten Einzelfall der Union zuzurechnen ist oder dem Handeln der Mitgliedstaaten in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich. Dies mag zwar zu einigen Abgrenzungsproblemen in der Praxis führen, ist vom Grundsatz her aber nichts Neues.

 

 

c)         Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistungen

 

Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von Köln[48] unterscheiden fünf Gruppen von Grundrechten, die in die Charta aufgenommen werden sollen: Freiheitsrechte, Gleichheitsrechte, Verfahrensgrundrechte, Unionsbürgerrechte sowie wirtschaftliche und soziale Rechte. Daneben tritt, obwohl nicht ausdrücklich erwähnt, als sechste Kategorie - bzw. der Bedeutung nach als erste - der Schutz der Menschenwürde als umfassende Fundamentalgarantie[49].

 

Mit diesem Auftrag des Europäischen Rates war klar, dass keine der genannten Kategorien in den Arbeiten des Konvents völlig ausgeblendet werden konnte - auch nicht die umstrittene Kategorie der wirtschaftlichen und sozialen Rechte. Offen war allein die Formulierung, und damit das Ausmaß des Grundrechtsschutzes.

 

Hinsichtlich des Detaillierungsgrads der Formulierungen hat sich der Konvent von den ersten Entwürfen an für knappe und allgemein gefasste Bestimmungen entschieden, wie wir sie aus dem Grundgesetz kennen, und damit gegen das Modell oft übermäßig detaillierter Regelungen, wie es typischerweise internationalen Menschenrechts-Schutzinstrumenten zugrunde liegt - auch der Europäischen Menschenrechtskonvention. Dahinter steckt die Überlegung, dass es für die Effektivität des Grundrechtsschutzes weniger auf den Detailgrad der Schutzbestimmungen ankommt, als auf einen guten Rechtsprechungsapparat, der die Grundrechtsdogmatik zu handhaben weiß. Dem übermäßigen Detailgrad internationaler Schutzinstrumente liegt dagegen oft das Misstrauen der Staaten gegen internationale Rechtsprechungsorgane zugrunde – ein Stadium, das innerhalb der Rechtsgemeinschaft Europäische Union glücklicherweise überwunden zu sein scheint.

 

Die Endfassung der Charta sieht, im Anschluss an eine Präambel, 54 Bestimmungen in 7 Kapiteln[50] vor, die wie folgt aufgeteilt werden: Die Würde des Menschen (Art. 1-5), Freiheiten (Art. 6-19), Gleichheit (Art. 20-26), Solidarität (Art. 27-38), Bürgerrechte (Art. 39-46), justizielle Rechte (Art. 47-50) und Allgemeine Bestimmungen (Art. 51-54).

 

Diese abschließende Fassung stellt sozusagen die vierte Generation dar, nach den ersten Entwürfen für die einzelnen Bestimmungen im Frühjahr, den Zwischenentwürfen vom Mai[51] mit denen erstmals, wenn auch in mehreren Teilen, ein Gesamtbild vorgelegt worden war und dem ersten Gesamtentwurf des Präsidiums vom 28. Juli[52], in dem bereits zahlreiche Änderungsvorschläge[53] der Mitglieder des Plenums berücksichtigt worden waren.

 

 

(1) Die Präambel

 

Die Präambel fasst in wenigen Sätzen die „Grundlage gemeinsamer Werte“[54] zusammen auf der die „immer engere Union“ der Völker Europas aufbaut. Bemerkenswert ist, dass neben den bekannten Grundsätzen der Menschenwürde, der Freiheit, der Gleichheit, der Solidarität[55], der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit auch ein ausdrückliches Bekenntnis zur Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen Europas sowie der nationalen Identität der Mitgliedstaaten enthalten ist. Auch das Subsidiaritätsprinzip wird erwähnt.

 

Heftig umstritten war in der Schlussphase der Verhandlungen die von den Kirchen geforderte Bezugnahme auf Gott, die insbesondere von den laizistischen Mitgliedstaaten strikt abgelehnt wurde. Als Kompromiss, der schließlich die Einigung ermöglichte, wurde der Hinweis auf das "geistig-religiöse und sittliche Erbe" der Union aufgenommen, das allerdings nur in der deutschen Fassung den Terminus "religiös“ enthält. In den übrigen Sprachfassungen wurde die Erwähnung des Religiösen ausdrücklich vermieden[56].

 

Im 6. Absatz der Präambel findet sich ein Niederschlag der Theorie der Grundpflichten: die Inanspruchnahme der Rechte der Charta wird in ausdrücklichen Bezug zu Verantwortlichkeiten und Pflichten gegenüber den Mitmenschen, der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen gesetzt.

 

 

(2)       Die Gewährleistung der Würde des Menschen

 

Wie das Grundgesetz beginnt auch der Chartaentwurf mit der grundlegenden Gewährleistung der Würde des Menschen, deren Unantastbarkeit[57] festgestellt wird (Art. 1).

 

Das Kapitel „Würde des Menschen“ umfasst neben dieser allgemeinen Gewährleistung auch die Freiheitsrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit in den Ausprägungen: Recht auf Leben (Art. 2), Recht auf Unversehrtheit (Art. 3), Verbot der Folter (Art. 4) sowie der Sklaverei und Zwangsarbeit (Art. 5).

 

Bemerkenswert bei der Garantie des Rechts auf Leben ist das - im Text nicht eingeschränkte - Verbot der Todesstrafe in Art. 2 Abs. 2. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis dieser Bestimmung zum System der Europäischen Menschenrechtskonvention, laut dessen Zusatzprotokoll Nr. 6 die Todesstrafe für Taten in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr zulässig bleibt. Nach Auffassung des Konvents[58] bleiben die Einschränkungen der Europäischen Menschenrechtskonvention – einschließlich derjenigen des Art. 2 von Protokoll Nr. 6 - auch hier anwendbar. Begründet wird dies unter Bezugnahme auf die horizontale Schrankenbestimmung der Charta[59], wonach eine Beschränkung bis zu den von der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgegebenen Schranken zulässig sei. Es stellt sich jedoch die Frage, ob bei einer derart gewichtigen Gewährleistung wie der Abschaffung der Todesstrafe jegliche Einschränkung nicht doch ausdrücklich in den Text der Charta hätte aufgenommen werden müssen. Andernfalls kann mit einigem Recht argumentiert werden, dass die Charta mit dieser unbedingten Formulierung gerade einen höheren und umfassenderen Schutz gewährleistet.

 

Innovativ ist die Formulierung des Rechts auf Unversehrtheit (Art. 3), bei der der Versuch[60] unternommen wird, Fragen der Medizin und der Bioethik detaillierter zu regeln, als dies bisher in den nationalen Verfassungen der Fall war. Die Formulierung bleibt allerdings innerhalb der dem Konvent gesetzten Grenzen der Kodifikation, da sie sich am Übereinkommen des Europarats über Menschenrechte und Biomedizin orientiert. Verboten werden beispielsweise eugenische Praktiken sowie das reproduktive Klonen von Menschen aber auch das Bestreben den menschlichen Körper oder Teile davon zur Erzielung von Gewinnen zu nutzen. Die Auflistung wird ausdrücklich als nicht erschöpfend gekennzeichnet („insbesondere“), um Fortschritten auf dem Gebiet der Biomedizin Rechnung tragen zu können[61].

 

 

(3)               Die Freiheitsrechte

 

Das Kapitel über die Freiheitsrechte enthält neben den bekannten Freiheitsgewährleistungen[62] vor allem folgende bemerkenswerte Fortentwicklungen:

 

Ein Recht auf Datenschutz (Art. 8) das - vergleichbar dem von der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Recht auf informationelle Selbstbestimmung – die Gewährleistung festschreibt, dass personenbezogene Daten nur mit Einwilligung oder auf gesetzlicher[63] Grundlage sowie zu einem festgelegten Zweck verarbeitet werden dürfen. Darüber hinaus enthält die Vorschrift Auskunfts- und Berichtigungsrechte und ihre Einhaltung soll von einer unabhängigen Stelle, einer Art EU-Datenschutzbeauftragtem, überwacht werden.

 

Das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen (Art. 9) wurde ausdrücklich[64] so gefasst, dass die Verleihung des Status einer Ehe für Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts weder untersagt noch vorgeschrieben wird. Die Zulässigkeit solcher Verbindungen folgt vielmehr allein aus der einzelstaatlichen Gesetzen, denen weder in die eine noch in die andere Richtung eine Vorschrift durch die Charta gemacht wird.

 

Als Unterpunkt der Vereinigungsfreiheit wird eine Garantie für das Institut politischer Parteien auf europäischer Ebene abgegeben (Art. 12 Abs. 2).

 

Mit dem Recht auf Bildung (Art. 14 EUV) ist eine Gewährleistung in die Freiheitsrechte aufgenommen, die in der öffentlichen Debatte in der Regel zu den sog. sozialen Grundrechten gezählt wird[65]. Ein Grund für diese Einordnung könnte das Bemühen sein, Leistungsansprüche von vorneherein dadurch zu reduzieren, dass es als Recht auf Zugang zu bestehenden Einrichtungen formuliert wird. Ein Recht zur unentgeltlichen Teilnahme ist nur für den Pflichtschulunterricht vorgesehen (Art. 14 Abs. 1 Satz 2), woraus e contrario geschlossen werden könnte, dass für die Teilnahme an anderen Bildungsveranstaltungen Gebühren bis hin zur Kostendeckung erhoben werden können. Die in Art. 14 Abs. 2 garantierte Freiheit zur Gründung von Lehranstalten entspricht Art. 7 Abs. 4 GG.

 

Neu ist auch die ausdrückliche Garantie eines "Rechts zu arbeiten" als Bestandteil der Berufsfreiheit (Art. 15 Abs. 1) und damit korrespondierend die explizite Gewährleistung der unternehmerischen Freiheit (Art. 16)

 

 

(4)               Die Gleichheitsrechte

 

Die Gleichheitsgewährleistungen im engeren Sinn umfassen neben dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 20) auch eine Liste spezifischer Nichtdiskriminierungsbestimmungen (Art. 21) und einen speziellen Auftrag zur Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen (Art. 23).

 

Bei den spezifischen Nichtdiskriminierungsbestimmungen sind neben den allgemein etablierten wie Geschlecht, Rasse, Hautfarbe usw. sind auch neuartige Elemente enthalten: genetische Merkmale, Sprache, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit; Behinderung, Alter oder sexuelle Ausrichtung. In einem zweiten Absatz wird das bereits im EG-Vertrag (Art. 12 EGV) enthaltene Verbot jeglicher Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit aufgegriffen. Die Bestimmung über die Gleichheit der Geschlechter, insbesondere bei der Festsetzung der Arbeitsentgelte und der sonstigen Arbeitsbedingungen (Art. 23) greift ebenfalls eine Regelung des EG-Vertrags (Art. 13 EGV) auf. Art. 23 Absatz 2 erlaubt dabei auch positive Fördermaßnahmen.

 

In drei innovativen Bestimmungen greift der Chartaentwurf den Schutz der Kinder, die Rechte älterer und die Integration behinderter Menschen auf: In Art. 24 wird - in Anlehnung an das Übereinkommen über die Rechte des Kindes – der Anspruch eines jeden Kindes statuiert, „den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind“ und die Möglichkeit zu erhalten, auf die es selbst betreffenden Angelegenheiten, entsprechen dem Grad seiner persönlich Reife, Einfluss zu nehmen. In Art. 25 wird das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben anerkannt. Behinderte Menschen erhalten in Art. 23 Anspruch auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit und ihrer Eingliederung in die Gesellschaft. Diese beiden Vorschriften gehören, obwohl sie im Kapitel „Gleichheit“ und nicht „Solidarität“ stehen, zu den wenigen des Chartaentwurfs, die unmittelbare Leistungsansprüche begründen. Angesichts des eng definierten Anwendungsbereichs und der allgemeinen Schrankenregelung des Art. 50 Chartaentwurf aus der sich die Möglichkeit ergibt, die Einzelheiten des Leistungsanspruchs gesetzlich zu regeln, dürften diese Bestimmungen nicht zu unzumutbaren Belastungen der Union und der Mitgliedstaaten führen.

 

Auslegungsschwierigkeiten könnte insbesondere die erst in letzter Minute eingefügte Art. 22 aufwerfen, wonach die Union die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen achtet. Angesichts der ausdrücklichen Bezugnahme in den Erläuterungen des Präsidiums auf die Erklärung Nr. 11 zur Schlussakte von Amsterdam betreffend den Status der Kirchen und Welt anschaulichen Gemeinschaften ist davon auszugehen, dass diese Bestimmung die Antwort des Konvents auf die Forderung der Kirchen nach einem eigenen Kirchenartikel darstellt. Diese allgemeine Fassung mit der bloßen Bezugnahme auf die Vielfalt der Religionen dürfte jedoch den Erwartungen der Kirchen nicht genügen.

 

 

(5)                     Die „Solidarrechte“

 

Die Bundesregierung[66] hatte sich von Anfang an für die Aufnahme sozialer Grundrechte in die Charta ausgesprochen, soweit sie Gegenstand justiziabler subjektiv-öffentlicher Rechte sein können. Die auch von anderen Regierungen[67] geforderte Aufnahme sozialer Grundrechte war bereits in die Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von Köln eingeflossen[68] und damit dem Grunde nach unstrittig. Sehr strittig waren dagegen Umfang und Ausgestaltung.

 

Eine Ursache hierfür mag sein, dass dieser Bereich bisher deutlich weniger gefestigt ist, als die Freiheits-, Gleichheits- und Unionsbürgerrechte. Die politische Debatte um die Grundrechtscharta drehte sich - neben der Frage nach ihrer künftigen Rechtsqualität – daher auch vor allem um die Ausgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte. Hier prallten zwei gegensätzliche Auffassungen aufeinander: Die Beschränkung auf einklagbare Individualgrundrechte und das Bestreben nach einem möglichst umfassenden Katalog wohlklingender sozialpolitischer Absichtserklärungen.

 

Die Charta ist hier offensichtlich bemüht, einen vermittelnden Weg zu gehen, indem dieser Bereich zwar relativ ausführlich behandelt wird, vor allem wenn man die in anderen Kapiteln untergebrachten „sozialen“ Grundrechte[69] hinzunimmt, sie sich aber andererseits auf Regelungen beschränkt, die in anderen Rechtsinstrumenten wie der Europäischen Sozialcharta, aber auch in sekundärem Gemeinschaftsrecht[70] bereits erfasst sind Neu ist daher nur der Rang als grundrechtliche Gewährleistung, nicht aber die Regelung als solche. Und die Gewährleistung von Leistungsansprüchen ist darüber hinaus stets unter den Vorbehalt der Ausgestaltung durch das Recht der Mitgliedstaaten gestellt.

 

Für eine solche behutsame Aufnahme in den grundrechtlichen Schutzbereich spricht, dass die tragenden Elemente des sozialen Schutzsystems, die sich im Laufe von Jahrzehnten herausgebildet und bewährt haben, auch grundrechtlich abgesichert werden sollten, sozusagen zu „Grundrechten gerinnen“. Durch die Beschränkung auf die tragenden Elemente ist auch sichergestellt, dass diese Regeln sich nicht als Sperrklinke gegen die Veränderung eines jeden einmal erreichten Schutzniveaus auswirken, sondern dass – bei Garantie der Architektur des Sozialsystems – das Schutzniveau sich wechselnden wirtschaftlichen Verhältnissen angepasst werden kann. So wird zum Beispiel der Elternurlaub als solcher zwar garantiert, nicht aber seine konkrete Dauer. Diese bleibt der Ausgestaltung durch den einfachen Gesetzgeber vorbehalten.

 

Die Gewährleistungen des Kapitels IV – Solidarität – lassen sich in drei Gruppen einteilen: Arbeitnehmerschutzrechte, Ausprägungen des Sozialstaatsgebots und Querschnittsbestimmungen mit Maßstäben, an denen sich das Handeln der Union in den Sachpolitiken ausrichten soll.

 

Die Arbeitnehmerschutzrechte (Art. 27-33) umfassen neben der klassischen Koalitions- und Tarifvertragsfreiheit sowie der Gewährleistung der Möglichkeit zu kollektiven Arbeitskampfmaßnahmen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber[71] (Art. 28) vor allem Schutzbestimmungen für Arbeitnehmer, wie das Recht auf rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung (Art. 27), den Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung (Art. 30), das Recht auf angemessene Arbeitsbedingungen (Art. 31), den Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz (Art. 32) sowie soziale Schutzrechte für Eltern zur Sicherung der Vereinbarkeit von Familie und Berufsleben (Art. 33). Außerdem wird, als ein kodifizierungsfähiger Ausfluss des Rechts auf Arbeit, das Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst (Art. 29) garantiert.

 

Eine interessante Ausbuchstabierung des Sozialstaatsprinzips im Unionsrahmen stellen die Art. 34 und 35 dar, die das Recht auf Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen[72] (Art. 34 Abs. 1) und zur Sozialhilfe (Art. 34 Abs. 3) sowie zum Gesundheitssystem (Art. 35) festschreiben, allerdings mit der sehr weitgehenden Einschränkung, dass diese Rechte dem Einzelnen nur nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten[73] zustehen. Das Recht auf Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen wird ausdrücklich auch Arbeitnehmern aus anderen EU-Mitgliedstaaten zuerkannt (Art. 34 Abs. 2), nicht aber das auf Zugang zur Sozialhilfe, wie sich aus der systematischen Stellung der Vorschrift ergibt.

 

Die Querschnittsbestimmungen enthalten Handlungsmaßstäbe, die die Politik der Union in allen[74] Sachbereichen zu berücksichtigen hat: den Zugang zu Diensten von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (Art. 36), den Umweltschutz (Art. 37) und den Verbraucherschutz (Art. 38). Es handelt sich hierbei um den Versuch, Konzepte, die in der politischen Diskussion eine so zentrale Rolle einnehmen, dass sie nicht unberücksichtigt bleiben können – wie z.B. das „Recht auf Umwelt“ -, in einer praktikablen Weise in die Grundrechtscharta zu übernehmen. Ihre Einordnung in das Kapitel Solidarität erscheint allerdings mehr als Verlegenheitslösung.

 

 

(6)               Die Bürgerrechte

 

Das Kapitel V – Bürgerrechte – umfasst nicht nur die Unionsbürgerrechte, sondern auch Jedermann-Grundrechte, die sich auf die Verwaltung der Union beziehen, wie das „Recht auf gute Verwaltung“.

 

Die Möglichkeit zwischen Unionsbürgern im Sinne des Art. 17 EGV und Drittstaatsangehörigen zu differenzieren ist auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt[75] – und damit die grundsätzliche Zulässigkeit von Unionsbürgerrechten, die lediglich dem Unionsbürger zustehen. Die Unterscheidung ist bei jedem einzelnen Artikel im Wortlaut kenntlich gemacht: die Jedermann-Grundrechte beginnen mit "Jede Person“, "Niemand", "Alle Menschen"; die Unionsbürgerrechte mit "Die Unionsbürger".

 

Die Unionsbürgerrechte fassen die politischen Rechte aus dem EG-Vertrag zusammen: das Wahlrecht zum Europäischen Parlament[76] (Art. 39) und bei Kommunalwahlen im Wohnsitzstaat (Art. 40), das Recht auf Zugang zu den Dokumenten der Unionsinstitutionen (Art. 42), das Recht auf Befassung des Bürgerbeauftragten (Art. 43), das Petitionsrecht (Art. 44) die Freizügigkeit im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten (Art. 45 Abs. 1) und das Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz (Art. 46). Die Freizügigkeit kann auf Drittstaatsangehörige ausgedehnt werden (Art. 45 Abs. 2); dies bedarf jedoch einer gesonderten Entscheidung gemäß den Verfahren des EGV.

 

Als Jedermann-Grundrecht ausgestaltet ist dagegen das Recht auf eine gute Verwaltung (Art. 41), das die bisher im wesentlichen von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs[77] entwickelten Grundsätze über den korrekten Umgang der öffentlichen Verwaltung mit dem Bürger kodifiziert. Dazu gehören insbesondere ein Anhörungsrecht nicht nur bei Gericht sondern auch gegenüber der Verwaltung, ein Recht auf Aktenzugang in eigener Sache und die Verpflichtung der Verwaltung, Entscheidungen zu begründen. Wichtig ist vor allem auch die Verpflichtung zur Entscheidung innerhalb angemessener Frist. Schließlich wird die Sprachenfrage - im Verhältnis zum Bürger – geregelt: Jedermann muss eine Antwort in der Amtssprache der Union erhalten, in der er sich an ihre Organe und Einrichtungen gewandt hatte.

 

 

(7)               Die Verfahrensgarantien

 

Kapitel VI fasst die, auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs[78] rezipierten, klassischen Verfahrensgrundrechte zusammen: das Recht auf wirksamen Rechtsbehelf (Art. 47 Abs. 1), auf faires Verfahren einschließlich des Zugangs zu Prozesskostenhilfe (Art. 47 Abs. 2 und 3), die Unschuldsvermutung und das Recht auf Verteidigung (Art. 48), den Grundsatz nulla poena sine lege und der Verhältnismäßigkeit der Strafzumessung (Art. 49) sowie das Verbot wegen derselben Sache zweimal vor Gericht gestellt zu werden (ne bis in idem) (Art. 50).

 

 

d)         Schrankenregelung

 

Hinsichtlich der Schrankenregelung stand der Konvent vor der Wahl eines Systems von spezifischen Einzelschranken, wie etwa im Grundgesetz, oder eines Systems der Beschränkung durch einige wenige, horizontale Prinzipien, wie z.B. den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, entsprechend der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.

 

Mit der Schrankenregelung in Art. 52 hat sich der Konvent für das letztere entschieden. Das lag schon deswegen nahe, weil dieses System der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs[79] entspricht. Wohl noch wichtiger war aber die Überlegung, dass die Schutzwirkung der Grundrechte weniger vom Detailgrad der Formulierung der Schranken durch den Gesetzgeber abhängt, als vielmehr von der Fähigkeit der Rechtsprechung, den grundrechtlichen Gewährleistungen im Wege praktischer Konkordanz größtmögliche Wirksamkeit zu verleihen. Dies entspricht im übrigen auch den Erfahrungen der deutschen Verfassungsrechtsprechung: Das ausdifferenzierte Schrankensystem zur Berufsfreiheit (Art. 12 GG) ist auch nicht vom Verfassungsgesetzgeber sondern von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[80] entwickelt worden.

 

Die Kernbestimmung der Schrankenregelung des Entwurfs (Art. 52 Abs. 1) sieht daher folgende drei Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Beschränkung vor: Gesetzesvorbehalt, Wesensgehaltsgarantie und Verhältnismäßigkeit, insbesondere Erforderlichkeit im allgemeinen Interesse oder zum Schutz der Rechte anderer. Für die aus EGV und EUV übernommenen Rechte gelten die dortigen Schrankenregelungen (Art. 52 Abs. 2). Grundsätzlich haben die parallel zur Europäischen Menschenrechtskonvention verbrieften Rechte[81] die gleiche Bedeutung und Tragweite wie in der Konvention (Art. 52 Abs. 3). In jedem Fall stellen die Gewährleistungen der EMRK somit einen Mindeststandard dar, der nicht unter- wohl aber unter bestimmten Voraussetzungen überschritten werden darf, ebenso das Völkerrecht und andere internationale Übereinkommen in ihrem Anwendungsbereich (Art. 53). Schließlich ist ein Verbot (Art. 54) vorgesehen, das den Missbrauch von Chartabestimmungen zur übermäßigen Einschränkung der Grundrechte ausschließen soll.

 

Hinsichtlich der drei Kernschranken - Gesetzesvorbehalt, Wesensgehaltsgarantie, Verhältnismäßigkeit – stellt sich vor allem die Frage nach der Auslegung des Gesetzesvorbehalts. Laut Art. 52 Abs. 1 muss jede Einschränkung „gesetzlich vorgesehen“ sein. Da das Unionsrecht den förmlichen Gesetzesbegriff nicht kennt, sondern nur – im Gemeinschaftsrecht – den der Verordnung, Richtlinie und Entscheidung[82] ist eine unionsrechtskonforme Anwendung dieses Konzepts erforderlich. Zunächst kommt nur eine generell-abstrakte Vorschrift mit Normqualität in Frage. Dies ist in erster Linie bei der Verordnung und der Richtlinie der Fall.

 

Interessanter noch ist aber, ob besondere Anforderungen an den Normgeber zu stellen sind. Soweit das unmittelbar demokratisch legitimierte Parlament[83] mit echter Entscheidungskompetenz beteiligt ist, z.B. im Mitentscheidungsverfahren, ist die Antwort einfach. Schwieriger ist es bei Rechtsakten, die der Rat außerhalb des Mitentscheidungsverfahrens erlässt. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, ob die indirekte demokratische Legitimation die die Mitglieder des Rates als Angehörige ihrer Regierung haben, ausreicht, um Grundrechtseingriffe zu rechtfertigen. Dabei wird man den besonderen Charakter der Union einerseits als Bürgerunion andererseits aber auch als Staatenunion berücksichtigen müssen, innerhalb derer die Rechtsetzung notwendigerweise anderen Regeln folgt als im innerstaatlichen Bereich. Noch schwieriger ist die Lage hinsichtlich der Kommission: Wegen ihrer stark exekutiven Natur dürfte ein nur von der Kommission erlassener Rechtsakt als Grundrechtsschranke nur dann ausreichen, wenn er seinerseits auf eine ausreichende gesetzliche Grundlage gestützt ist und diese lediglich konkretisiert.

 

 

e)         Verfahren zur gerichtlichen Durchsetzung des Grundrechtsschutzes

 

In der öffentlichen Debatte wird oft vorschnell der Fehlschluss von der noch nicht erfolgten Aufnahme der Grundrechtscharta in die Verträge auf ihre fehlende Rechtsverbindlichkeit gezogen. Dabei wird jedoch übersehen, dass die Grundrechtscharta eine Kodifikation bestehender Grundrechtsgewährleistungen darstellt, die Rechtsverbindlichkeit also bereits auf Grund dieser in anderen Rechtsinstrumenten verankerten Grundrechtsgewährleistungen gegeben ist. Aus der (vorläufigen) Nichteinbeziehung der Grundrechtscharta in die Verträge folgt also nicht, dass diese vorläufig keine Rechtsverbindlichkeit entfaltet. In jedem Fall wird der Europäische Gerichtshof sie – neben den ursprünglichen Grundrechtsverbriefungen - als Rechtserkenntnisquelle im Rahmen des Art. 6 Abs. 2 EUV heranziehen.

 

Zunächst muss die behauptete Grundrechtsverletzung allerdings vor den EuGH gelangen. In jedem Fall besteht schon nach der geltenden Rechtslage die Möglichkeit der Vorlage durch ein innerstaatliches Gericht (Art. 234 EGV). Damit ist, solange die innerstaatlichen Gerichte kooperieren, sichergestellt, dass jede die Grundrechte auf Unionsebene betreffende Frage dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt wird.

 

Eine andere Frage ist, ob zusätzlich das Institut einer „Verfassungsbeschwerde“ an den EuGH eingeführt werden sollte, mittels derer sich jeder, der sich durch einen Akt der Unionsgewalt in seinen Grundrechten verletzt fühlt, an den EuGH wenden kann.

 

Dagegen sprechen Gesichtspunkte der juristischen Effizienz: da bereits mit dem geltenden System in der Rechtspraxis weitestgehend sichergestellt ist, dass die Fragen über das Vorlageverfahren an den EuGH gelangen. Eine Verfassungsbeschwerde würde daher nur die – sowieso schon übermäßige – Arbeitslast des Gerichtshofs erhöhen, ohne den Grundrechtsschutz in der Sache wesentlich zu stärken.

 

Für die Verfassungsbeschwerde spricht dagegen die Ratio, die dem gesamten Projekt der Grundrechtscharta zugrunde liegt: die stärkere Identifikation des Europäischen Bürgers mit seiner Union. Und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Möglichkeit, sich wegen einer behaupteten Grundrechtsverletzung, nach Erschöpfung des Rechtswegs, unmittelbar an den EuGH zu wenden, hierzu einen wichtigen Beitrag leisten könnte[84].

 

Dies ist allerdings keine Frage, die der Konvent zu entscheiden hätte. Die Einführung einer solchen Europäischen Verfassungsbeschwerde müsste auf Vorschlag eines Mitgliedstaats oder der Kommission in einer Regierungskonferenz zur Änderung der Verträge (Art. 48 EUV) beschlossen werden.

 

 

5.                  Ausblick

 

Das Ergebnis der Arbeiten des Konvents zeigt, dass er die schwierige Gratwanderung zwischen dem Auftrag einer Kodifikation der geltenden Grundrechte und einer behutsamen Anpassung an die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen gemeistert hat: Zahlreiche innovative Bestimmungen - wie etwa der Bioethikartikel[85], das Recht auf Datenschutz[86], die Regeln zum Schutz der Kinder, zur Gewährleistung der Rechte älterer und zur Integration behinderter Menschen[87], die Arbeitsschutzrechte[88] und insbesondere auch die Bürgerrechte mit dem Recht auf eine gute Verwaltung und auf Zugang zu Informationen[89] - zeigen, dass der Konvent die aktuellen Entwicklungen in der europäischen politischen und rechtswissenschaftlichen Diskussion aufgegriffen und einen den heutigen Erfordernissen entsprechenden Entwurf vorgelegt hat. Dabei ist er, entgegen manchem Anschein, seinem Auftrag der Kodifizierung treu geblieben, da diese neuen Bestimmungen – zumindest in ihrem Kern - bereits in internationalen Menschenrechtsschutz-Instrumenten enthalten sind oder, wie etwa das Recht auf Datenschutz/informationelle Selbstbestimmung, zwischenzeitlich von der Verfassungsrechtsprechung in den Mitgliedstaaten entwickelt worden waren.

 

Mit der Grundrechtscharta erhält Europa – 50 Jahre nach der Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention – erneut eine umfassende und auf den aktuellen Stand gebrachte Grundrechtsurkunde. Diese tritt – wie gezeigt – nicht an die Stelle der Konvention, sondern ergänzt sie sinnvoll in einem Bereich, in dem der Grundrechtsschutz bisher nur durch für den Bürger weniger leicht fassbares Richterrecht garantiert worden war. Es ist zu hoffen, dass die Charta zum Kristallisationspunkt für einen europaweiten Diskurs der Zivilgesellschaft wird. Dass sie das Potential dazu hat, zeigt bereits die lebhafte Bürgerbeteiligung bei ihrer Ausarbeitung, insbesondere die zahlreichen von Privatleuten und Nichtregierungsorganisationen eingegangenen Stellungnahmen. Die parallel dazu stattfindende Regierungskonferenz zur Revision der Verträge, deren Dokumente ebenfalls über das Internet veröffentlicht sind, hat dagegen ein nicht einmal entfernt damit vergleichbares Echo bei der Zivilgesellschaft gefunden.

 

Im Anschluss an die feierliche Proklamation durch Rat, Kommission und Europäisches Parlament anlässlich des Europäischen Rats von Nizza stellt sich die Frage nach der Einbeziehung der Charta in die Verträge.

 

Diese kann nur im Rahmen einer Regierungskonferenz (Art. 48 EUV) geschehen. Einige, so insbesondere die Europäische Kommission und das Europäische Parlament hatten sich zu Beginn der Arbeiten des Konvents für eine Einführung noch im Rahmen der laufenden Regierungskonferenz 2000 ausgesprochen. Dies war von zahlreichen Mitgliedsstaaten jedoch als verfrüht angesehen worden, insbesondere wegen der Gefahr einer Verzögerung der Regierungskonferenz.

 

Die Einbeziehung in die Verträge wird daher erst bei der nächsten Regierungskonferenz möglich sein, die nach den Ergebnissen des ER Nizza voraussichtlich im Jahr 2004 stattfinden wird. Dies sollte aber nicht überbewertet werden, da - wie gezeigt - der Grundrechtscharta als Kodifikation bestehender Grundrechte auch ohne förmliche Einbeziehung Rechtsverbindlichkeit zukommt. Jedenfalls wird eine Verzögerung bei der Einbeziehung in die Verträge der Wirkung, die die Charta entfalten wird, keinen Abbruch tun.

 

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[1] Dr. iur., Botschaftsrat an der Deutschen Ständigen Vertretung bei der EU. Der Beitrag gibt – soweit nicht ausdrücklich anderweitig gekennzeichnet - ausschließlich die persönliche Meinung des Verfassers wieder. Er ist für die Veröffentlichung auf den Stand vom 20. Dezember 2000, nach Abschluss der Arbeiten an der Grundrechtscharta, gebracht worden.

[2] Entwurf der Charta der Grundrechte Europäischen Union, abrufbar unter http://db.consilium.eu.int/df (im Folgenden zitiert als „Entwurf“) - Der Konvent hat eine umfassende Beteiligung der Öffentlichkeit sichergestellt, indem alle seine Dokumente unmittelbar nach Erscheinen in ein speziell dafür eingerichtetes Unterverzeichnis – df für „droits fondamentaux“ - der Homepage des Rats der Europäischen Union eingestellt wurden.

[3] Die in den ER-Schlussfolgerungen, mangels anderweitiger Einigung, zunächst nur als „Gremium“ bezeichnete Versammlung nennt sich seit ihrer Sitzung vom 1. Februar 2000 „Konvent“; diese Bezeichnung ist spätestens seit dem ER St. Maria da Feira (19./20.06.2000) auch vom Europäischen Rat offiziell anerkannt: vgl. Schlussfolgerungen ER Feira – abrufbar auf der Homepage des Bundespresseamts über http://www.bundesregierung.de – Ziff. 4 und 5.

[4] Siehe z.B.: Rengeling, Hans-Werner: Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft - Bestandsaufnahme und Analyse der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Schutz der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze, München 1993; Pernice, Ingolf: Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht - Ein Beitrag zum gemeinschaftsimmanenten Grundrechtsschutz durch den EuGH, Baden-Baden 1979; Wetter, Irmgard: Die Grundrechtscharta des Europäischen Gerichtshofes: die Konkretisierung der gemeinschaftlichen Grundrechte durch die Rechtsprechung des EuGH zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, Frankfurt am Main ; Bern et al. 1998; Kreuzer, Karl Friedrich: Europäischer Grundrechtsschutz, Baden-Baden 1998.

[5] Schlussfolgerungen des ER Köln, Ziffer 44, Bulletin der Bundesregierung Nr. 49 vom 16.08.1999, S. 514.

[6] Däubler-Gmelin, Herta: Die europäische Charta der Grundrechte – Beitrag zur gemeinsamen Identität, EuZW 2000, 1; vgl. auch: dieselbe: FAZ vom 10.01.2000, S. 11.

[7] So ausdrücklich: Däubler-Gmelin, Herta: a.a.O., EuZW 2000, 1: „... Bezugspunkt zu sein für die Identifikation mit dem europäische Einigungswerk, gewissermaßen für einen europäischen „Verfassungspatriotismus“.

[8] Vgl. zu dieser Terminologie: Koenig, Christian: Ist die Europäische Union verfassungsfähig?, DöV 1998, 268 ff. sowie die zahlreichen w. N. bei: Schwarze, Jürgen: Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung – Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht, DVBl 1999, 1677, insbes. S. 1682, insbesondere auf die Schriften von Grimm, Isensee, Kirchhof, Rupp, die die Verfassungsfähigkeit der Europäischen Union mangels Staatsqualität grundsätzlich in Frage stellen.

[9] BVerfGE 89, 155 ff.

[10] z.B. Isensee, Josef und Kirchhof, Paul in dem von beiden herausgegebenen Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1987, Band I, § 13 Rdnr. 1 und § 19 Rdnr. 18; Grimm, Dieter im Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 6.1992/93, 13 ff.

[11] Vgl. nur die Fülle von Ereignissen, die allein im Jahr 1999 die Öffentlichkeit europaweit beschäftigt haben: der Kosovo-Krieg, die Vorgänge um den Rücktritt der Santer-Kommission, die verschiedenen Lebensmittelskandale (BSE, Dioxin), die Einführung des Euro und die Debatten um die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank – so dass man durchaus von der schrittweisen Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit sprechen kann.

[12] Grundlegend: Oeter, Stefan: Souveränität und Demokratie als Probleme in der „Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union, ZaöRV 1995, 659, insbes. S. 701 ff. m.w.N.

[13] Zum Begriff des „Verfassungsbedarfs“: vgl. Koenig, Christian: Anmerkungen zur Grundordnung der Europäischen Union und ihrem fehlenden „Verfassungsbedarf“, NVwZ 1996, 549 ff. In der politischen Diskussion hat die Verfassungsfrage in bezug auf die EU in der jüngsten Vergangenheit wieder an Aktualität gewonnen, ausgehend von der Programmrede von Joschka Fischer als EU-Ratsvorsitzendem vor dem Europäischen Parlament am 12.01.1999 – abrufbar unter http://www.auswaertiges-amt.de: „Die Vorstellung von der gemeinsamen Europäischen Zukunft, von der „Finalität“ Europas, ist heute diffus. Hier könnte eine Diskussion über die Verfasstheit Europas Klarheit und Orientierung schaffen.“; dieser Gedanke wurde ausgearbeitet in seiner Rede vom 12.05.2000 vor der Humboldt-Universität - abrufbar unter http://www.auswaertiges-amt.de – die in der (längerfristigen) Forderung nach einem „Verfassungsvertrag“, zumindest für die „Europäische Föderation“ gipfelt. Diese Überlegungen sind im übrigen nicht an ein politisches Lager gebunden, vgl.: Schäuble, Wolfgang; Lamers, Karl: Europa braucht einen Verfassungsvertrag, FAZ vom 04.05.1999. Auch auf Seiten der deutschen Länder gewinnt der Gedanke einer EU-Verfassung zunehmend an Unterstützung, wenn auch v.a. unter dem Gesichtspunkt der Kompetenzabgrenzung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten (einschließlich deren Regionen).

[14] Siehe oben: Fn. 10 und weitere Nachweise bei: Schwarze, Jürgen: a.a.O., DVBl 1999, 1677, insbes. S. 1682.

[15] So auch ausdrücklich der EuGH, der bereits die Gemeinschaftsverträge nicht nur als völkerrechtliche Übereinkünfte, sondern als „Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“ bezeichnet hat, z.B. im EWR-Gutachten, Sammlung 1991 I, S. 6079, insbes. S. 6102, Rdnr. 21; auch das BVerfG hat in einer frühen Entscheidung von den Gemeinschaftsverträgen als „gewissermaßen der Verfassung der Gemeinschaft“, BVerfGE 22, 293, insbes. S. 296, gesprochen. Zu der im Vordringen befindlichen Auffassung in der Rechtslehre, dass der Verfassungsbegriff nicht nur Staaten vorbehalten ist, vgl. die Nachweise bei: Weber, Albrecht: Die europäische Grundrechtscharta – auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung, NJW 2000, 537, insbes. S. 538, Fn. 16.

[16] Vgl. dessen Beitrag zum Geburtstagskolloquium für Georg Ress, in diesem Band:

[17] So z.B., wenn auch mit sehr vorsichtigen Formulierungen die Beobachter des Europarats, der Richter am EuGH-MR Marc Fischbach und der stv. Generalsekretär des Europarats, Christian Krüger, in der Eröffnungssitzung des Konvents am 17.12.1999 – Dok. Charta 4105/00, Anlage VI, S. 22, insbes. S. 26; ebenso der Kanzler der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, Bruno Haller, in Dernières Nouvelles d´Alsace, Ausgabe vom 15.12.1999.

[18] Dieser Beitritt ist nach dem Rechtsgutachten des EuGH – Gutachten 2/94 vom 28.03.1996, Slg. 1996 I-1759 - ohne vorherige Vertragsänderung sogar ausgeschlossen, da es an der erforderlichen Rechtsgrundlage mangelt. Bei diesem Rechtsgutachten des EuGH mag die Überlegung eine Rolle gespielt haben, daß mit dem Europarecht nicht so vertraute Richter die besonderen Rechtsgrundsätze des Europarechts (z.B. den effet utile) und die von einem Staat stark abweichende Zielbestimmung der europäischen Integration nicht ausreichend berücksichtigen und so die Weiterentwicklung der EU hemmen könnten.

[19] Vgl. dessen Beitrag zum Geburtstagskolloquium für Georg Ress, in diesem Band; grundlegend hierzu: EuGH-MR Urteil im Fall Matthews vs. UK vom 18.02.1999, in dem in der EuGH-MR eine Verletzung der EMRK durch den Direktwahlakt für die Wahlen zum Europäischen Parlament - einen Gemeinschaftsrechtsakt - festgestellt hat, da dieser das Wahlrecht zum Europäischen Parlament der Unionsbürger in Gibraltar ausschließt.

[20] Vgl. hierzu: Ress, Georg: Die EMRK und das europäische Gemeinschaftsrecht, ZEuS 1999, 471 ff, insbes. S. 474 ff.

[21] Dabei ist es hierfür unerheblich, ob die Union Rechtspersönlichkeit besitzt – was im übrigen die mittlerweile wohl herrschende Meinung in der Literatur, fußend nicht zuletzt auf den Arbeiten von Ress, Georg: Ist die Europäische Union eine juristische Person?, EuR, Beiheft 2, 1995, S. 27 ff., annimmt.

[22] So auch der Vorsitzende des Konvents, Roman Herzog, in seiner Rede zur konstituierenden Sitzung des Konvents – Dok. Charta 4105/00, Anlage I, S. 8: „dass es an der Zeit ist, nach außen deutlich zu machen, dass die Europäische Union im Verhältnis zu ihren Bürgern keinen geringeren Bindungen unterliegen darf als die Mitgliedstaaten das aus ihrem eigenen Verfassungsrecht kennen.“.

[23] So auch die Solange II-Entscheidung des BVerfGE 73, 339 ff., jedenfalls solange ein ausreichender Grundrechtsschutz durch das Unionsrecht gewährleistet wird. Soweit die Maastricht-Entscheidung – BVerfGE 89, 155 ff. – dahinter zurückgeht, kann dem nicht gefolgt werden und sei es nur aus der Überlegung heraus, dass nicht 15 (oder künftig über 25) nationale Verfassungsgerichte das Unionsrecht am Maßstab ihrer jeweiligen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen überprüfen können, sowie aus den oben unter Ziff. 1 angeführten Gründen. Inwieweit dies auch für die Beurteilung der Frage gilt, ob ein Sachgebiet der Union im Rahmen der begrenzten Einzelermächtigung überhaupt übertragen worden ist oder nicht, bedürfte einer eigenen, vertieften Untersuchung. Angesichts der Überlegung, dass eine Alleinentscheidungsbefugnis dieser Frage durch den EuGH die Union in die Nähe der Kompetenz-Kompetenz bringen würde, spricht einiges dafür, bei dieser eng umgrenzten, spezifischen Frage angesichts des bisherigen Entwicklungsstands der Union (noch) zumindest eine Missbrauchsüberprüfung durch die nationalen Verfassungsgerichte zuzulassen. Dies entspricht jedoch mehr dem Grundgedanken des Solange II-Urteils (keine Kontrolle, solange kein offensichtlicher Missbrauch) und reicht m.E. nicht aus, ein „Kooperationsverhältnis“ zwischen dem EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten hinsichtlich des Grundrechtsschutzes gegen Akte der Unionsgewalt zu begründen.

[24] Vgl. Art. 234 Abs. 3 EGV, also auch das BVerfG.

[25] Vom 3./4. Juni 1999, abrufbar über http://www.europarl.eu.int/dg7/summits/de/index.htm, Auftrag des „Gremiums“, des nachmaligen Konvents in Anhang IV.

[26] Vom 19./20.06.2000 – abrufbar über http://www.bundesregierung.de – Ziff. 5.

[27] Vom 15./16. Oktober 1999, abrufbar über http://www.europarl.eu.int/dg7/summits/de/index.htm, Bestimmungen zum Konvent im Anhang "Zusammensetzung und Arbeitsverfahren des Gremiums zur Ausarbeitung des Entwurfs einer EU-Charta der Grundrechte sowie einschlägige praktische Vorkehrungen entsprechend den Schlußfolgerungen von Köln".

[28] Das die Grundrechtscharta, nach einer stark vertretenen Auffassung, früher oder später werden soll – zumindest existiert ein entsprechender Prüfauftrag des Europäischen Rats.

[29] Aktueller Überblick über die Entwürfe, die das Europäische Parlament mehrfach vorgelegt hat, z.B. bei: Weber, Albrecht: a.a.O., NJW 2000, 537 ff., insbes. S. 537. Eine gute Materialsammlung über die grundrechtsrelevanten Arbeiten des EP bietet auch dessen Homepage http://www.europarl.eu.int/charter/de/default.htm, auf der auch die in den beiden nächsten Fußnoten zitierten Dokumente abgerufen werden können.

[30] Abl. EG 1989 Nr. C 120.

[31] Abl. EG 1994 Nr. C 61, S. 155 ff. (Teil VIII).

[32] ER Tampere vom 15./16.10.1999 – http://www.europarl.eu.int/dg7/summits/de/index.htm - Anhang, Abschnitt B.IV.

[33] Der Europäische Rat spricht von „Redaktionsausschuss“ – z.B. ER Tampere, Anhang B.IV. – was an sich korrekter ist, da ihm neben dem Präsidenten und den Vizepräsidenten auch der Vertreter der Kommission angehört. Im Brüsseler Sprachgebrauch hat sich jedoch die Bezeichnung „Präsidium“ durchgesetzt: Die entsprechenden Konventsdokumente werden ausdrücklich als solche „des Präsidiums“ gekennzeichnet. Daher soll diese Terminologie auch hier verwandt werden.

[34] Dies war im ersten Halbjahr 2000, in dem das Präsidium das erste Mal zusammengetreten ist, der portugiesische Regierungsvertreter Pedro Bacelar de Vasconcellos; im 2. Halbjahr 2000 der französische Regierungsvertreter Guy Braibant.

[35] Inigo Mendez de Vigo.

[36] Der finnische Abgeordnete Gunnar Jansson.

[37] Kommissar Antonio Vitorino.

[38] Der Sitzungsplan ist veröffentlicht auf der Homepage des Konvents: http://db.consilium.eu.int/df.

[39] Vom 15./16.10.1999 – http://www.europarl.eu.int/dg7/summits/de/index.htm - Anhang, Abschnitt B.V.

[40] Vgl. zu diesem Begriff: Hirsch, Günter, der in der Frankfurter Rundschau vom 05.01.2000 mit Blick auf das Charta-Projekt davor warnt, sich in "wohlklingender Verfassungslyrik" zu ergehen.

[41] So: Däubler-Gmelin, Herta in der FAZ vom 10.01.2000, S. 11.

[42] Hier im weiteren Sinne verstanden, also Recht der Europäischen Union, umfassend das Gemeinschaftsrecht und das Recht der übrigen Teile des Unionsvertrags (das sog. Unionsrecht i.e.S.).

[43] Z.B. im Rechtsfall ERT: EuGH v. 18.06.1991, Rs. C-260/89, Slg. I-2925, Rz. 43.

[44] So auch die explizite Haltung der Bundesregierung, vgl. Däubler-Gmelin, Herta in: FAZ vom 10. Januar 2000, S. 11.

[45] Eine interessante Frage ist, ob angesichts dieser durch Art. 46 EUV geschaffenen offensichtlichen Rechtsschutzlücke für diesen Sonderfall die – im Sinne der Solange II-Entscheidung, vgl. auch oben Fn. 23 – grundsätzlich ruhende Kompetenz der einzelstaatlichen Verfassungsgerichte zur grundrechtlichen Überprüfung von Unionsrechtsakten wieder auflebt. Angesichts der Geltung des Rechtstaatsprinzips auch für die nichtstaatliche Rechtsgemeinschaft Europäische Union spricht viel für diese Auffassung, um mit diesem Prinzip unvereinbare Lücken im Individualrechtsschutz zu verhindern.

[46] Vgl. Art 31 in der Fassung von Dok. Charta 4316/00, S. 2: „... sowie die auf Gemeinschaftsebene und im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten handelnden Sozialpartner achten die Rechte und bringen die Grundsätze zur Anwendung, die in dieser Charta für den Sozialbereich aufgeführt sind.“.

[47] Auch wenn die Existenz eines "Unionsgebiets" bestritten ist, ist der territoriale Anwendungsbereich des Unions- und Gemeinschaftsrechts doch eindeutig festgelegt. Insoweit erscheint es sinnvoll, von einem Unionsgebiet zu sprechen. Dabei sollen allerdings aus diesem Begriff hier keine Rechtsfolgen hergeleitet werden, da ein solches Vorgehen - die Herleitung von Rechtsfolgen aus staatsrechtlichen Begriffen, die in einem ganz anderen geschichtlichen und staatstheoretischen Zusammenhang entwickelt worden sind – wie oben dargelegt, an den Erfordernissen der heutigen europäischen Verfassungswirklichkeit vorbeigeht.

[48] Anhang IV, Abs. 2 bei den wirtschaftlichen und sozialen Rechten mit der Einschränkung, „soweit sie nicht nur Ziele für das Handeln der Union begründen“.

[49] So auch die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents – Dok. 4473/00, S. 3: "Die Würde des Menschen ist nicht nur ein Grundrecht an sich, sondern bildet das eigentliche Fundament der Grundrechte.".

[50] Mit dieser streng systematischen Aufteilung hat der Konvent ein früheres Verständnis aufgegeben, wonach es weniger auf die systematische Unterscheidung der verschiedenen Formen der Grundrechte ankomme, sondern auf eine Reihenfolge, die die jeweilige rechtliche und politische Bedeutung angemessen zum Ausdruck bringt. Aus diesem Grund fanden sich im Zwischenentwurf – siehe Fn. 52 - an sich sachlich zusammenhängende Grundsätze an verschiedenen Stellen: z.B. der Gleichheits-Grundsatz zu Beginn in einer allgemeinen Formulierung ("alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich") und später (ex Art. 22) in einer ausführlichen, in drei Absätzen ausdifferenzierten Bestimmung mit den verschiedenen Diskriminierungsverboten.

[51] Interessant sind insbes. diese Zwischenentwürfe mit ihren Begründungen, aus denen sich die Überlegungen des Konvents erkennen lassen: Dok. Charta 4284/00 vom 5. Mai 2000 für die bürgerlichen und politischen Rechte und Dok. Charta 4316/00 vom 16. Mai 2000 für die wirtschaftlichen und sozialen Rechte sowie die horizontalen Bestimmungen –abrufbar über http://db.consilium.eu.int.

[52] Dok. 4422/00, abrufbar unter http://db.consilium.eu.int/df.

[53] Eine vom Präsidium erstellte Zusammenfassung der von den Mitgliedern des Konvents eingereichten Änderungsvorschläge zum Zwischenentwurf findet sich in Dok. Charta 4360/00.

[54] So ihre Ziff. 1.

[55] Als zeitgemäße Ausdrucksform der Brüderlichkeit.

[56] Zum Beispiel in der englischen: „spiritual and moral heritage“ und der französischen: „héritage spirituel et moral“.

[57] Die Formulierung "ist unantastbar" wurde - aufgrund zahlreicher darauf hinzielender Änderungsvorschläge, insbesondere seitens der deutschsprachigen Mitglieder des Konvents bzw. Experten in den Anhörungen – erst in der Schlussphase gewählt. In den ersten Fassungen hieß es „ist zu achten und zu schützen“, da die „Unantastbarkeit“ eine faktische Aussage und keinen Normbefehl darstellt und somit genau betrachtet nicht korrekt ist.

[58] So in der Begründung des Präsidiums: Dok. 4473/00 S. 4, die allerdings vom Präsidium in eigener Verantwortung formuliert worden sind und ausdrücklich keine Rechtswirkung entfalten, daselbst S. 1.

[59] Art. 52 Abs. 3, wonach Rechte die den EMRK-Rechten entsprechen, „eine den in der genannten Konvention eingeräumten Rechten entsprechende Bedeutung und Tragweite haben“, allerdings nur „sofern diese Charta nicht einen höheren oder umfassenderen Schutz gewährleistet“.

[60] In Art. 3 Abs. 2.

[61] So die Begründung zum vorangegangenen Zwischenentwurf: Dok. 4284/00, S. 4.

[62] Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 6); Achtung des Privat- und Familienlebens – darunter wird auch die Unverletzlichkeit der Wohnung und das Fernmeldegeheimnis, genannt Recht auf Achtung der Kommunikation, gefasst (Art. 7); Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 10); Meinungs- und Informationsfreiheit – im Rahmen derer die Medien ausdrücklich gewährleistet werden (Art. 11); Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1); Forschungsfreiheit (Art. 13) – aber nicht ausdrücklich Freiheit der Lehre, dafür wird die „akademische Freiheit“ gewährleistet, unter die auch die Freiheit der Lehre zu fassen sein dürfte; Berufsfreiheit (Art. 15); die Eigentumsgarantie (Art. 17), wobei das geistige Eigentum eigens erwähnt und in den Schutzbereich einbezogen wird; Recht auf Asyl nach Maßgabe des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 und des Protokolls vom 31. Januar 1967 (Art. 18); Verbot von Kollektivausweisungen und der Auslieferung an Verfolgerstaaten (Art. 19).

[63] Zum Gesetzesvorbehalt im Unionsrecht, vgl. unten unter Buchstabe d) Schrankenregelungen.

[64] So die Begründung des Präsidiums, Dok. 4473/00, S. 12.

[65] Z.B. Däubler-Gmelin, Herta: FAZ vom 10.1.2000, S. 10.

[66] Vgl. Däubler-Gmelin, Herta: FAZ vom 10.1.2000, S. 10

[67] Z.B. in der französischen öffentlichen Debatte stehen die sozialen Grundrechte ganz im Zentrum.

[68] Anhang IV, Abs. 2.

[69] V.a. Recht auf Bildung (Art. 14), Schutz der Kinder (Art. 24), Rechte älterer Menschen (Art. 25), Integration von Behinderten (Art. 26).

[70] Z.B. die Gewährleistung des Elternurlaubs in Art. 33 Abs. 2, der die Richtlinie 96/34/EG aufgreift.

[71] Also auch der Aussperrung.

[72] Im Sinne der deutschen Sozialversicherung: Krankenversicherung, Arbeitsunfallversicherung, Pflegeversicherung, Arbeitslosenversicherung und Rentenversicherung.

[73] Dabei stellt sich die Frage, wie diese „Gepflogenheiten“ mit dem Gesetzesvorbehalt der allgemeinen Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 vereinbar sind.

[74] So z.B. ausdrücklich in Art. 37 am Ende: „müssen in die Politiken der Union einbezogen“ werden.

[75] Z.B.: Urteil des EuGH-MR vom 7.8.1996 – C. vs. Belgien, http://hudoc.echr.coe.int/hudoc/ Referenznummer REF00000578 – Ziff. 38: wonach es eine objektive und vernünftige Rechtfertigung dafür gibt, z.B. in Fragen der Ausweisung Gemeinschaftsangehörigen eine Vorzugsbehandlung einzuräumen.

[76] In „allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl“ – nicht aber gleicher Wahl, wegen der, aufgrund der Konstruktion der Europäischen Union sowohl als Bürger- wie auch als Staatenunion, unvermeidbaren Ungleichheit des Erfolgsgewichts der Stimmen von Unionsbürgern aus verschiedenen Mitgliedstaaten.

[77] Nachweise in Dok. Charta 4473/00, S. 36.

[78] Zum Nachweis dieser Verfahrensgrundsätze in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs: vgl. Dok. Charta 4284/00, S. 8-13.

[79] Vgl. statt aller aus der neuesten Rechtsprechung: EuGH Urteil v. 13.04.2000 – Rs. C-292/97 – Entscheidungsgrund 45: „Nach gefestigter Rechtsprechung kann jedoch die Ausübung dieser Rechte (...) Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der diese Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet.“.

[80] Grundlegend das Apotheken-Urteil: BVerfGE 7, 377 ff.

[81] Vgl. in Dok. 4473/00 die Auflistung der Charta-Artikel, die dieselbe Bedeutung und Tragweite wie die EMRK-Artikel haben und derjenigen mit derselben Bedeutung aber umfassenderer Tragweite.

[82] Art. 249 EGV.

[83] Vgl. auch Ress, Georg: Das Europäische Parlament als Gesetzgeber – Der Blickpunkt der Europäischen Menschenrechtskonvention, ZEuS 1999, 219 ff.

[84] Dies ist auch die Position der Bundesregierung, vgl. Däubler-Gmelin, Herta in FAZ vom 10.01.2000, S. 10: „Insbesondere sollte die Anfechtungsklage einzelner Bürger gegen europäisches Recht wegen Grundrechtsverletzungen unter den gleichen Voraussetzungen zulässig sein wie die deutsche Verfassungsbeschwerde.“.

[85] Art. 3 Abs. 2 Charta.

[86] Art. 8 Charta.

[87] Art. 24-26 Charta.

[88] Vor allem Art. 33 Charta – Einklang von Familie und Berufsleben.

[89] Art. 41 und 42 Charta.